BERICHT
Juristenstreit: Beckmann widerlegt Dreier
Der Würzburger Medizinrechtsexperte Rainer Beckmann hat die Behauptung seines Würzburger Juristenkollegen, des Staatsrechtlers und Rechtsphilosophen Horst Dreier, das Grundgesetz schütze menschliche Embryonen erst ab der Einnistung in die Gebärmutter, als „haltlos“ zurückgewiesen.
In einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (Ausgabe vom 22.6.) hatte Dreier argumentiert, Grundrechtschutz komme nur einem „Individuum (also etwas Unteilbarem)“ zu. Beim Menschen sei die „Individuation“ aber erst „ungefähr zeitgleich mit der Nidation“ abgeschlossen. Weil die bereits befruchtete, jedoch nicht eingenistete Eizelle noch zur Zwillingsbildung fähig sei, handelt es sich bei ihr nicht um ein Individuum, sondern stattdessen um ein „Dividuum“. Dieses sei zwar „gattungsspezifisches menschliches Leben“, aber eben noch kein „individuiertes menschliches Wesen“. Und nur solche würden, so Dreier weiter, durch Artikel 2 Absatz 2 Grundgesetz („Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“) geschützt. Daher sei eine Zulassung der PID auch „nicht unbedingt ein Verstoß gegen die Verfassung“.
In seiner lesenswerten Replik, die in der überregionalen, in Würzburg editierten katholischen Tageszeitung „Die Tagespost“ (Ausgabe vom 25.6.) erschien, hält Beckmann Dreier entgegen, die „Teilungsfähigkeit“ früher Embryonen stehe überhaupt nicht „im Widerspruch zur Individualität des ungeteilten Embryos“.
Laut Beckmann geht der Begriff ‚Individuum’ auf die griechische Naturphilosophie zurück und bezeichnet den „kleinstmöglichen Teil einer Substanz, bei deren analytischer Zertrennung der Charakter dieser Substanz verloren ginge (...) (Hans-Bernhard Wuermeling).“ Individualität in diesem Sinn stehe also einem Teilungs-Begriff gegenüber, der zur „Substanzzerstörung“ führe. Bei lebenden Organismen gebe es jedoch zwei ganz gegensätzliche Arten der „Teilung“: die Zerstörung des Organismus durch Beschädigung der Ganzheit sowie die „Teilung“ im Sinne einer ungeschlechtlichen Vermehrung. Formalisiert könne man dies so ausdrücken: bei echter Teilung entstehe aus X zweimal 1/2 X, bei unechter Teilung, die in Wirklichkeit als Vermehrung betrachtet werden müsse, entstehe dagegen aus X zwei mal 1 X = 2 X.
Entstünden aus einem Embryo zwei Embryonen, so sei dies „keine Zerteilung in zwei ‚halbe’ Embryonen, sondern eine (ungeschlechtliche) Vermehrung in zwei ganze Embryonen.“ Diese ändere aber „an der Individualität des Ausgangsembryos nichts“. Alle Lebewesen, bei denen eine derartige Vermehrung durch „Teilung“ vorkomme (insbesondere Pflanzen, aber auch einige Tierarten), „waren auch vor dem Vermehrungsvorgang einzelne Exemplare ihrer Spezies, nämlich ‚Individuen’“, so Beckmann. Das treffe auch für den menschlichen Embryo zu. Deshalb könne ihm im Frühstadium seiner Entwicklung, „in der eine vergleichbare Form der Vermehrung möglich ist, der Charakter eines Individuums nicht abgesprochen werden“.
In seiner Replik auf den F.A.Z.-Beitrag Dreiers übt der Medizinrechtler Beckmann auch an weiteren Hilfsargumenten seines Würzburger Staatsrechts-Kollegen massive Kritik. So führe Dreier „als weiteres Argument für eine statusändernde Bedeutung der Nidation“ an, dass nur jeder dritten befruchteten Eizelle die Einnistung in die Gebärmutter gelänge. Unterstelle man einmal, dies treffe zu, „obwohl hierzu kaum belastbares Zahlenmaterial vorliegt“, dann bleibe immer noch „schleierhaft, welche Schlüsse“ daraus zu ziehen zeihen. „Soll etwa der ‚verschwenderische Umgang’ der Natur mit menschlichen Embryonen als Begründung für ihre Rechtlosstellung und Vernichtung dienen?“, fragt Beckmann und fährt fort: „Ein solcher Schluss von Naturereignissen auf menschliches Handeln wäre verfehlt.“ Werde ein Mensch von einem Dachziegel erschlagen, den ein Windstoß vom Dach gefegt habe, so sei dies nicht dasselbe, wie wenn der Ziegel von einem Menschen gezielt herabgeworfen würde. „Der Ziegel-Werfer wird sich vor Gericht nicht damit rechtfertigen können, er habe doch nur das getan, was die Natur auch ‚macht’.“
Die „Höhe der Verlustquote von Embryonen vor der Nidation“ ändere nichts an der „grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Naturereignissen und menschlichem Verhalten“. „Würde man den Beobachtungszeitraum nur genügend verlängern, könnte man für den Menschen sogar eine hundertprozentige Todesrate feststellen. Ein Recht, Menschen umzubringen, oder die Annahme, Menschen seien deshalb nicht schutzwürdig, kann daraus nicht abgeleitet werden. Der Umstand, dass Lebewesen der Gattung Mensch bereits sehr früh und häufig sterben, macht den Embryonaltod nicht bedeutsamer als die unumstößliche Tatsache, dass Menschen früher oder später überhaupt sterben müssen“, so Beckmann.
Als „Besonders merkwürdig“ bewertet der Medizinrechtsexperte Dreiers Erörterungen zum sogenannten Sandhaufenparadoxon. Dieses illustriere laut Dreier unsere Fähigkeit, „qualitativ unterschiedliche Zustände zu unterscheiden“ und wertend bestimmte Zäsuren vorzunehmen, „obwohl wir den exakten Zeitpunkt des Übergangs von einem Zustand zu einem anderen nicht benennen können“. Welches einzelne Sandkorn eine Ansammlung von Körnern zu einem Haufen werden lasse, könne man nicht sagen. „Und doch können wir“, so Dreier, „einen Sandhaufen sehr wohl von einer Ansammlung von drei Sandkörnern unterscheiden – wie wir einen Achtzeller von einem Fötus in der 24. Schwangerschaftswoche unterscheiden können.“
Laut Beckmann steckt Dreiers Denkfehler hier „in der Prämisse, durch ein Anhäufen von Sandkörnern könne überhaupt ein ‚qualitativ’ anderer Zustand herbeigeführt werden.“ Tatsächlich geht es aber „allein um eine quantitative Veränderung. Egal, ob man nun drei Körner, drei Schaufeln oder drei Lastwagenladungen Sand als ‚Sandhaufen’ bezeichne – es bleibt in jedem Fall Sand.“ In gleicher Weise bleibe auch „die Eigenart eines Lebewesens während seiner Entwicklung gleich, auch wenn die Anzahl der Zellen, aus denen es besteht, zunimmt – ganz abgesehen davon, dass der Mensch nicht bloß eine Anhäufung von ‚Biomasse’ darstellt, sondern eine immaterielle Dimension hat, die weder an seiner Größe noch seinem Gewicht abzulesen ist.“
Beckmanns Fazit: „Dreiers Ausführungen erweisen sich insgesamt als haltlos, auch wenn er sie an prominenter Stelle publizieren konnte. Sie lassen vor allem jegliche Begründung dafür vermissen, wie aus einem nicht-menschlichen „Etwas“ durch die Einnistung in die Gebärmutter plötzlich ein „Jemand“ werden soll, der von diesem Zeitpunkt an Grundrechtsschutz genießt. Dieses Manko trifft man leider bei allen Autoren, die der Nidation maßgebliche Bedeutung für die „Menschwerdung“ beimessen. Alle Schritte der vorgeburtlichen Entwicklung haben sicherlich ihre je eigene Bedeutung für das Wachsen und Gedeihen des Menschen. Die Nidation führt aber nicht zu einer qualitativen Wesensverwandlung des Embryos während der Schwangerschaft.“